Wandern auch aus trainingswissenschaftlicher Sicht
Das Wandern ist des Lehrers Lust, doch für die Schüler ist es Frust. So stimmten wir uns früher auf den obligatorischen Wandertag in der Schule ein. Das zwanglose Bewegen in freier Natur ist im Zeitalter der boomenden Fun- und Trendsportarten höchstens noch Bewegungstherapie für Senioren. Alleine schon der Begriff „Wandern“ klingt altbacken, nicht zuletzt deshalb, weil er der deutschen Sprache entstammt.
Finden die kids und folks ein workout hip, welches schon ewig existiert und nahezu völlig auf Anglizismen verzichtet? Der Soziologe Rainer Brämer von der Uni Marburg beantwortet diese Frage eindeutig mit Ja, findet, dass Wandern „in“ ist und sieht eine Menge Vorteile in dem Traditionssport.
Wandern gewinnt wieder zunehmend an Beliebtheit
Brämer zitiert repräsentative Umfragen, die ergeben, dass zwei Drittel der Deutschen Wandern für „in“ halten und 40 Prozent würden gerne öfter wandern. Vor allem in den Gebirgsregionen erfreut sich das Wandern sehr großer Beliebtheit und hat den Sprung von der Urlaubsaktivität zum ernst zu nehmenden Hobby vollzogen. Besonders beliebt ist es in höheren Einkommens- und Bildungsschichten.
Geschlechtsspezifische Unterschiede gibt es nicht. Sowohl Männlein als auch Weiblein wandern gerne, am liebsten gemeinsam. In der Altersstruktur des Wanderpublikums lässt sich ein Trend in Richtung der jüngeren erkennen, so Brämer. Gehen in der Natur ist bei jungen Menschen beliebter als vielfach angenommen. Lediglich das Wandern in Begleitung der Eltern oder des Lehrers steht bei den kids nicht hoch im Kurs. Wenn Jugendliche wandern ist es wichtig, dass sie unter sich sind und sich frei bewegen können.
Berührung mit der Natur
Wanderern kommt es nicht nur auf den rein motorischen Aspekt an. Wanderareale sind meistens auch ein Stück unberührte Natur, die es zu genießen gilt. Auch hier liegen sie im Trend, denn 80% der Deutschen messen dem Motto „Zurück zur Natur“ eine Bedeutung bei, so Brämer. Diese Naturverbundenheit zeigt sich unabhängig vom Alter. Wenn sich Jugendliche an ein schönes Naturerlebnis erinnern sollen, dann bringen sie das meistens mit einer Wanderung in Verbindung. Auf der anderen Seite stellt die Berührung der Natur für Wanderer den hauptsächlichen Beweggrund dar, ihren Sport zu betreiben. Hier zeigt sich ein Unterschied zu den energetisch beanspruchenderen Geh- und Laufsportarten wie Walking oder Jogging. Hobbyläufer nennen in erster Linie gesundheitsbezogene Gründe, wenn sie nach ihrer Motivation gefragt werden.
Ein weiterer interessanter Aspekt ist der Zusammenhang zwischen Aufenthalt in der freien Natur und psychischem Wohlbefinden, auf den Brämer hinweist. Nicht minder bedeutsam ist auch das Gruppenerlebnis und die dadurch zu erwartenden Vorteile für die soziale Gesundheit. Wenn man Gesundheit nicht auf das Fehlen körperlicher Beschwerden reduziert, vermag Wandern einen großen Teil dazu beizutragen.
Wandern aus trainingswissenschaftlicher Sicht
Wenn auch Bestzeiten und sportliche Höchstleitungen nicht im Mittelpunkt des Interesses stehen, so kann man Wandern dennoch als gewöhnliche (Ausdauer-)Sportart betrachten. Regelmäßige Wanderungen sind demnach eine Form des Trainings. Ein paar Pfund abnehmen, das Herz-Kreislaufsystem stärken, Ausdauer steigern; all dies sind Erwartungen, die man klassischerweise an das Laufen (Jogging) knüpft. Ist dies beim Wandern genauso? Der Einsteiger stellt sich möglicherweise Fragen wie:
Lässt sich die Ausdauer durch Wandern trainieren?
Bringt Wandern Vorteile für das Herz-Kreislaufsystem?
Schadet Wandern den Gelenken?
Kann ich durch Wandern abnehmen?
Eine eindeutige Trennung der Sportarten im Hinblick auf den Trainingsnutzen fällt schwer. Wo hört Wandern auf und wo fängt Walking an. Entscheidend ist die individuelle Beanspruchung, die sich aus dem Verhältnis von objektiver Belastung und individueller Trainiertheit ergibt. Die objektive Belastung wird beim Gehen im Wesentlichen von Steigung, Geschwindigkeit und Körpergewicht bestimmt. Geht beispielsweise ein 80 Kilogramm schwerer Mann mit 5km/h eine zehnprozentige Steigung hinauf, so verrichtet seine Muskulatur Arbeit.
Diese Arbeit kennzeichnet wie bei allen anderen energetisch determinierten Sportarten auch den Trainingsreiz. Ist dieser Reiz über einer bestimmten Schwelle, bezeichnet man ihn als trainingswirksam. Die Höhe der Schwelle hängt von der Trainiertheit ab. Demnach wird eine zweistündige Wanderung bei 5 km/h bei einem Marathonläufer kaum trainingswirksam sein, bei einem übergewichtigen untrainierten Senioren möglicherweise schon.
Deshalb ist es auch beim Wandern wichtig, die Belastung an die aktuelle Leistungsfähigkeit anzupassen und schrittweise zu steigern. Eine mehrstündige Bergwanderung mit mehreren Höhenmetern kann einen Einsteiger durchaus überfordern. Gerade für solche Menschen, die nie sportlich aktiv waren, könnte Wandern der Einstieg in den Sport ermöglichen.
Analog zum Walking
ist auch das Wandern aus bewegungsanalytischer Sicht Gehen. Gehen ist im Gegensatz zum Laufschritt dadurch gekennzeichnet, dass immer ein Fuß Bodenkontakt hat. Es gibt also keine Sprungphase und die Belastung des Gelenkknorpels in den tragenden Gelenken Knie und Hüfte ist deutlich geringer. Die aufrechte Körperhaltung beim Wandern ist ein wohltuender Ausgleich zum sitzenden Büroalltag.
Auch die gerne gestellte Frage, ob Wandern beim Abnehmen hilft, muss mit „kommt darauf an“ beantwortet werden. Wer abnehmen will, muss seinen Energieverbrauch erhöhen. Dafür gibt es unzählige Möglichkeiten, denn alle Formen der körperlichen Aktivität kurbeln den Energieverbrauch an. Wenn auch die Energieflussrate (Energieumsatz pro Zeiteinheit) beim Wandern eher gering ist, so sind die Touren doch zumeist mehrere Stunden lang, wodurch sich ein nicht unerheblicher Gesamtenergieumsatz ergeben kann, insbesondere dann, wenn das Gelände profiliert ist. Wie bereits beschrieben, ist Wandern gerade für Übergewichtige eine schonende Belastungsform.
Die Einfachheit
Nicht unerheblich ist auch ein weiterer Vorteil, nämlich die Einfachheit. Es bedarf zum Wandern keiner aufwändigen Instruktion und einen Trainer braucht man auch nicht unbedingt; höchstens einen Guide oder eine Wanderkarte, um sich nicht zu verlaufen. Das Equipment ist auch denkbar einfach: Bequeme Schuhe und wetterfeste Kleidung. Das sogenannte Zwiebelschalenprinzip, nach dem sich auch Läufer und Radfahrer kleiden, macht vor allem bei widrigen Bedingungen Sinn. Dabei trägt man drei Schichten von Kleidung, eine wasserableitende unterste Schicht, darauf den eigentlich wärmenden Pullover und außen eine wind- und wetterfeste und hinreichend atmungsaktive Jacke. Eine Pulsuhr ist für den gesunden Wanderer ebenso überflüssig wie teure Laufschuhe. In unbefestigtem oder alpinem Gelände sowie auf längeren Wandertouren bieten sich allerdings spezielle Wanderschuhe (s. Abb. oben) mit rutschfester Sohle und viel Stabilität für das Sprunggelenk an.
Fazit
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Wandern bei jung und alt zwar zunehmend beliebter wird, es aber wohl nie zur Trendsportart schaffen wird. Das sollte aber auch gar nicht der Anspruch sein. Wandern ist mehr als bloßes Gehen. Soziale Aspekte, Naturerlebnis und Entspannung sind die Erfolgsfaktoren, die das Wandern zwar nicht zum spektakulären Trendsport, dafür aber zum „Evergreen“ machen.