Was kaltes Wasser mit meinem Charakter zu tun hat
Neulich wurde in meinem Fitness-Studio die Sauna komplett herausgerissen und eine neue hingebaut. Wo vorher vergilbtes Holz und eine verkrustete Aufguss-Anlage regierten, steht nun eine vollautomatische, helle Panorama-Sauna mit integrierter Lichttherapie. Gleichzeitig wurden auch die Duschen erneuert - und wie ich nach einem entspannten Vormittag im Reich der Hitze feststellte, kann man neuerdings mittels Mischbatterie auch warmes Wasser nach dem Saunagang verwenden!
"Warum erzählt der so ein banales Zeug?", wird man sich an der Stelle vielleicht fragen. Weil ich eine grundlegende Beobachtung gemacht habe. Also: Natürlich drehte ich zum abschließenden Duschen das kältestmögliche Wasser auf und genoss den Kampf, den diese Temperaturveränderung so mit sich bringt. Wer nicht weiß, wie er sich im heutigen Leben beweisen soll, der versuche mal, im eiskalten Wasser Schnappatmung zu vermeiden! Ich liebe solche Kämpfe gegen mich selbst - offensichtlich aber niemand der anderen anwesenden Saunierer. Die meisten drehten ihre Duschtemperatur auf ein ihnen angenehmes Maß, voller innerer Freude darüber, dass sie sich endlich nicht mehr dem saukalten Nass aussetzen mussten.
Etwas traurig beobachtet ich die seligen Gesichter - denn sie beraubten sich der Möglichkeit, sich gegen Kälte abzuhärten, unabhängiger von äußerer Wärme zu werden und ihren Körper besser zu kontrollieren. Das brachte mich dazu, die Kapuze meines Bademantels tief über das Gesicht zu ziehen, mich in meine Liege zurückzulehnen und darüber zu sinnieren, welchen größeren Zusammenhang die freie Willensbestimmung im Hinblick auf unsere persönliche Entwicklung hat.
Solange die Leute keine andere Wahl hatten, als nach nach dem Saunagang eiskalt zu duschen (da es eben nur einen An-Aus-Knopf für den Wasserstrahl gab), nahmen sie ihr Schicksal an und duschten kalt. Nicht besonders lang, aber sie setzten sich zumindest diesem ersten Fluchtreflex vor der Unannehmlichkeit zuwider.
Mit der Existenz einer Wahl der Wassertemperatur durch den Einbau der Mischbatterie entscheiden sich die gleichen Leute nun dazu, sich nicht mehr länger widersetzen zu wollen, sondern den Unannehmlichkeiten auszuweichen und mit Hilfe ihres freien Willens ihr Leben angenehm, seicht und kampflos zu machen.
Das entspricht natürlich vollständig unserer genetischen Veranlagung. Unser Körper und Geist entstanden in einer Zeit, die von Hunger, Kälte, mangelnder Kommunikation und Technik geprägt war. Das Leben war höchstwahrscheinlich ein fortwährender Kampf ums Überleben - jedes wilde Tier, jede kalte Nacht, jeder neidische Nachbar, jeder unvorsichtige Schritt hätte das Ende bedeuten können. Erst ein vorausschauender, intelligenter Geist war imstande, kommende Gefahren abzumildern. Die Domestizierung von Feuer und Haustieren, von festen Wohnungen und sesshaftem Ackerbau nahm dem Leben Gefahren und führte zu einer Verlängerung unserer Zeitspanne auf dem Erdball. Diese Entwicklung begann damit, dass sich Homo sapiens dachte: "Vermeide Gefahr - lebe besser!".
Unsere heutige Zivilisation basiert auf der Perfektionierung genau dieses Gedankenganges: "Vermeide Gefahr". Sie tritt in ganz unterschiedlichen Stilrichtungen auf, die von der Art der jeweiligen Bedrohung gekennzeichnet ist:
- Gefahr des Verhungerns - Auswirkung: Fresssucht, Abhängigkeit von Snacks und Süßigkeiten
- Gefahr der Verletzung - Auswirkung: Vermeidung jeglichen körperlichen Risikos durch Sport
- Gefahr des Verausgabens - Auswirkung: Vermeidung sämtlicher Aktivität, extremes Couchen
- Gefahr des Erfrierens - Auswirkung: ständiger Aufenthalt in Räumen, übertriebene Kleidung
- Gefahr der Einsamkeit - Auswirkung: Mitmachen bei jeglicher Mode
Die Liste ließe sich natürlich ausweiten, sie soll hier aber beispielhaft genügen. Im Endeffekt beweist diese Liste auch, dass der "innere Schweinehund" keine rein negative Sache ist, sondern ein Überlebensgarant vergangener Zeiten.
Er hat nur die Überhand gewonnen - und zwar massiv. Wer sich schon einmal in einem Land aufgehalten hat, welches der Bevölkerung keinen gesetzlichen Widerstand gegen hemmungslosen Hedonismus bietet, der hat die Auswirkungen gesehen. Ich denke da zum Beispiel an die Walross-Doubles in einem Mega-Supermarkt im Norden Washingtons: einer endlosen Kette unglaublich fetter Menschen, die in kleinen Autos durch die Gänge fuhren, weil sie sogar beim Einkaufen zu faul waren, zu laufen. Sähen alle Menschen so aus, wäre das unser Ende als Spezies. Jede Katze könnte uns ausrotten.
Noch im Eindruck dieser Erinnerung an diese amerikanischen Auswüchse kommt in mir der Appell hoch: Wehret den Anfängen! Wehret den Anfängen dieser Verweichlichung unseres menschlichen Körpers und seines Geistes. Ohne mentale Härte werden wir abhängig von Maschinen (und deren Herstellern), von Nahrungsüberangebot, von Abschirmung gegen die Natur und einer wachsenden Zahl anderer zivilisierter Annehmlichkeiten. Wir verlieren zusehends unseren freien Willen.
Der freie Wille ist aber genau das, was uns vom Tier unterscheidet. Menschen können aus eigener Kraft ihr Schicksal ändern und sind genau dafür geschaffen worden. Benutzen wir den freien Willen nicht, so entwickeln wir uns zum Tier zurück - zu einem instinktgesteuerten Organismus, dem man keine Verantwortung geben kann. Also ich möchte nicht das ausgestoßene Tier einer Pavian-Herde sein, oder die Maus, die vor allen Fressfeinden in stetiger Angst lebt. Ich bin stolz, ein Individuum zu sein, dass durch eigenen Willen Gemeinschaft und Sinn stiften kann. Wie geht es Ihnen damit?
Verteidigen wir unseren freien Willen also unter der Saunadusche! Was bescheuert klingt, lässt sich aber auf Vieles andere in unserer Umgebung übertragen: Lasse ich den jungen Kerl mit seiner schlechten Bankdrück-Technik allein oder biete ich ihm ungefragt Hilfe an? Gebe ich mich weiter meinen Launen hin und stopfe Süßes und Fastfood in mich rein, obwohl ich viel zu dick bin, oder widersetze ich mich endlich diesem destruktiven Drang? Schaffe ich es endlich, meinen Freunden zu sagen, dass ich mich nicht mehr jedes Wochenende hemmungslos besaufe, sondern übernehme ich Verantwortung für meinen Körper und gebe ihm Zeit, zu regenerieren? Kann ich endlich von meiner Sportsucht Abstand nehmen und kümmere mich um die wichtigeren Dinge des Lebens: Ehe, Kinder, Familie?
All das erfordert das Überwinden von Unannehmlichkeiten, die unser genetischer Schweinehund verhindern will. Aber damit geht er zu weit. Wer Herr über sein Leben werden und sich nicht mehr von jeglicher minimalen Laune beeinflussen lassen, damit ein besseres eigenes und fremdes Leben schaffen will, setzt seine Grundlagen mit den kleinen Prüfungen des Alltags. So, wie große körperliche Kraft mit der leeren Hantelstange, oder der Marathon unter 3 Stunden mit einem gerade so durchgehaltenen Kilometer angefangen haben, so bildet sich der freie Wille mit einem Schwapp kalten Wassers aus, den man sich selbst verordnet hat.
Bis dahin, Ihr Patrick Raabe