Wie ein Mann dem Westen das Yoga schenkte
Wenn gestresste Hausfrauen und ausgepowerte Manager sich auf dünnen Matten verrenken und tief in den Bauch atmen, dann steckt ein Mann dahinter, der die westliche Welt verändert hat: Belur Krishnamachar Sundararaja Iyengar. Der Name mag für viele schwer auszusprechen sein, doch die Wirkung seines Lebenswerks ist überall spürbar. Er brachte Yoga in den Westen und machte die uralte Praxis zu einem Eckpfeiler moderner Fitness- und Gesundheitskultur. Dabei begann sein Leben so weit entfernt von Ruhm und Erfolg, wie man es sich nur vorstellen kann.
Von einem kränklichen Jungen zum weltbekannten Yogi
1918 wird Iyengar im indischen Bellur geboren, als Angehöriger der armen Brahmanenkaste. Seine Kindheit ist geprägt von Krankheiten, Hunger und körperlicher Schwäche. Erst mit 15 Jahren ändert sich sein Leben grundlegend. Sein Schwager, der renommierte Yogi Sri T. Krishnamacharya, nimmt ihn unter seine Fittiche. Unter dessen Anleitung beginnt Iyengar, die Asanas – die körperlichen Übungen des Yoga – zu praktizieren. Schritt für Schritt gewinnt er an Gesundheit und Stärke.
Mit 19 Jahren wagt er einen mutigen Schritt: Er tritt aus dem Schatten seines Lehrers und zieht nach Pune, um dort als Yoga-Lehrer zu arbeiten. Doch Iyengar ist kein Mann, der starr an Traditionen festhält. Er experimentiert, passt die Übungen an und entwickelt seinen eigenen Stil. Das sogenannte Iyengar-Yoga wird geboren. Es basiert auf Hatha-Yoga, einer Richtung, die körperliche und geistige Kräfte in Einklang bringen soll. Dabei setzt Iyengar gezielt auf Präzision, Ausdauer und die Verwendung von Hilfsmitteln wie Kissen, Gurten oder Blöcken.
Yoga für alle – dank Seilen und Kissen
Iyengars Innovationen sind revolutionär. Seine eigenen Erfahrungen als kränklicher Junge fließen in seinen Stil ein. Er weiß, dass nicht jeder Mensch die nötige Flexibilität oder Kraft mitbringt, um die traditionellen Übungen auszuführen. Also macht er Yoga zugänglich – für Anfänger, für ältere Menschen, für Menschen mit körperlichen Einschränkungen. Die Einführung von Hilfsmitteln macht es möglich, dass fast jeder die Asanas ausführen kann, ohne sich zu verletzen.
Diese Offenheit beschert Iyengar in Indien schnell eine treue Anhängerschaft. Doch die Welt jenseits Indiens bleibt ihm zunächst verschlossen – bis ein berühmter Musiker auf ihn aufmerksam wird.
Der Weg in den Westen
1952 kommt der weltbekannte Violinist Yehudi Menuhin nach Indien, um von Iyengar Yoga zu lernen. Die Begegnung wird zum Wendepunkt in Iyengars Leben. Menuhin ist begeistert von den positiven Effekten des Yoga und schlägt seinem Lehrer vor, nach Europa zu reisen. Iyengar nimmt die Herausforderung an und unterrichtet bald in London, Paris und der Schweiz. In der hektischen, vom Nachkriegstrauma gezeichneten westlichen Welt trifft er auf eine Zielgruppe, die nach Ruhe, Ausgeglichenheit und einem neuen Lebensgefühl sucht.
Ein Bestseller, der die Welt verändert
1966 veröffentlicht Iyengar sein Buch „Light on Yoga“, das bald als das Standardwerk des Yoga gilt. Es wird in mehr als 20 Sprachen übersetzt und verbreitet Iyengars Lehren auf der ganzen Welt. Gleichzeitig wächst seine Popularität weiter. Prominente wie der Schriftsteller Aldous Huxley oder die belgische Königin Elisabeth gehören zu seinen Schülern. Iyengar wird zur Ikone des modernen Yoga, doch er bleibt seinen Prinzipien treu. „Yoga ist kein Wettbewerb“, sagt er. „Es ist eine Reise zu sich selbst.“
Eine Bewegung mit globalem Einfluss
1975 gründet Iyengar in Pune das Ramamani Iyengar Memorial Yoga Institute, benannt nach seiner verstorbenen Frau. Das Institut wird zu einem Mekka für Yogis aus aller Welt, die von Iyengar persönlich lernen wollen. Mitte der 1980er-Jahre zieht sich der Meister schließlich aus dem aktiven Unterricht zurück. Doch sein Erbe lebt weiter – durch seine Bücher, seine Schüler und die Millionen Menschen, die heute Iyengar-Yoga praktizieren.
Yoga als moderne Therapie
Iyengar betonte stets, dass Yoga mehr sei als nur ein Workout. Es sei eine Möglichkeit, Körper und Geist zu heilen. Heute wird Iyengar-Yoga in vielen Ländern als ergänzende Therapie eingesetzt – bei Rückenschmerzen, Stress oder sogar Depressionen. Die präzisen Bewegungen und die bewusste Atmung helfen dabei, den Körper zu stabilisieren und den Geist zu beruhigen. Wissenschaftliche Studien belegen, dass Yoga das Immunsystem stärkt, die Flexibilität erhöht und die mentale Gesundheit fördert.
Iyengars Vermächtnis
Im Jahr 2002 erhält Iyengar den Padma Bhushan, den dritthöchsten zivilen Verdienstorden Indiens. Doch für ihn ist die wahre Belohnung nicht die staatliche Anerkennung, sondern die Tatsache, dass Yoga heute weltweit als ernstzunehmende Praxis für Gesundheit und Wohlbefinden gilt. Iyengar hat es geschafft, eine jahrtausendealte Tradition in die moderne Welt zu übertragen – und dabei Millionen Menschen zu helfen, ihre innere Balance zu finden.
Ein Meister, der die Welt veränderte
Belur Krishnamachar Sundararaja Iyengar hat nicht nur Yoga revolutioniert, sondern auch bewiesen, dass man mit Disziplin, Innovation und Leidenschaft die Welt verändern kann. Seine Lehren haben Generationen von Menschen inspiriert, ihren Körper zu stärken, ihren Geist zu beruhigen und ein harmonisches Leben zu führen. Und auch wenn Iyengar 2014 verstorben ist, lebt sein Geist in jedem weiter, der auf einer Yogamatte steht, tief einatmet und die Balance sucht – zwischen Körper und Seele.