Shanghai.
Für Silvia Neid ist bei der Weltmeisterschaft in China erstmals als Bundestrainerin verantwortlich für die deutsche Frauen-Nationalmannschaft. Die 43 Jahre alte Grande Dame ist seit dem ersten offiziellen Länderspiel der DFB-Frauen vor 25 Jahren dabei: Zunächst in 111 Länderspielen als Feldspielerin, später als Assistentin von Bundestrainerin Tina Theune-Meyer, die sie nach dem Gewinn der Europameisterschaft in ihrem Amt 2005 beerbte.
fitness.com: Frau Neid, am Montag beginnt die Weltmeisterschaft mit dem Auftaktspiel gegen Argentinien. Wie schwer lastet die Bürde des amtierenden Titelträgers auf den Schultern ihrer Spielerinnen?
Silvia Neid: Das belastet uns nicht sonderlich. Sicherlich sind wir als Titelverteidigerinnen die Gejagten. Wir sind aber nicht nach China gefahren, um etwas zu verteidigen. Stattdessen sind wir hergekommen, um etwas zu gewinnen.
fitness.com: Was erwarten Sie von Argentinien als Gegner?
Neid: Argentinien ist auf jeden Fall ein ernstzunehmender Gegner, der sich in den vergangenen Jahren weiter entwickelt hat. Sie sind Südamerikameister und haben dabei Brasilien geschlagen. Das sagt alles. Dennoch sind wir die Favoritinnen.
fitness.com: Mehr als die Hälfte Ihres Kaders war schon beim Titelgewinn 2003 dabei, sechs bis sieben Weltmeisterinnen stehen auch gegen Argentinien in der Anfangself. Vertrauen Sie bewusst auf Erfahrung oder haben sich zu wenige junge Spielerinnen angeboten?
Neid: Ich denke, dass wir eine gute Mischung aus erfahrenen und jungen Spielerinnen haben. Für den jetzigen Zeitpunkt und ein so großes Turnier wie die WM halte ich meine Auswahl für richtig. Aber ich hoffe, dass sich nach der WM einige Talente in den Vordergrund spielen werden.
fitness.com: Dürfen die Talente, die schon im Kader stehen, Sie eigentlich auch duzen wie jene Spielerinnen, mit denen sie noch zusammen spielten?
Neid: Die alten Hasen müssen mich natürlich nicht jetzt plötzlich mit „Sie“ ansprechen, nur weil ich Bundestrainerin bin. Wir haben irgendwann mal eine Grenze gezogen und gesagt, dass alle, die nach 1983 geboren worden sind, mich siezen müssen.
fitness.com: Bislang lastet sehr viel Verantwortung auf der Nationalmannschaft. Das Ansehen des Sports steht und fällt mit den Ergebnissen Ihres Teams. Nur Erfolge der Nationalmannschaft bringen die entsprechende öffentliche Aufmerksamkeit. Belastet Sie diese Situation?
Neid: Seit Frauenfußball bei der Europameisterschaft 1989 das erste Mal im Fernsehen live übertragen wurde, standen wir bei jedem Fernsehspiel unter besonderem Druck. Jedes Spiel wurde immer als eine große Chance für den Frauenfußball angepriesen. Deshalb sind wir diesen Druck gewöhnt, wir kamen eigentlich immer ganz gut damit zurecht. Deshalb belastet uns das nicht weiter.
fitness.com: Wie beurteilen Sie denn die Lage weltweit. Wo steht der deutsche Frauenfußball?
Neid: Einige Länder haben große Fortschritte gemacht. In den USA herrschen für die Nationalspielerinnen sehr gute Bedingungen. Sie arbeiten während des ganzen Jahres als Vollprofis. In Skandinavien geht der Trend auch zum Profi. An solchen Entwicklungen müssen auch wir uns orientieren.
fitness.com: Ist die Bundesliga dafür gerüstet?
Neid: Die Liga muss eindeutig stärker und ausgeglichener werden. Es nützt den Top-Spielerinnen nichts, wenn Spitzenspiele mit 6:0 enden. Unsere Nationalspielerinnen müssen möglichst Wochenende für Wochenende gefordert werden.
fitness.com: Sind Sie abseits dieser konkreten Sorgen zufrieden mit dem Stellenwert des Frauenfußballs?
Neid: Natürlich geht es noch immer viel besser. Aber wir haben schon viel erreicht. Die meisten Spiele der Nationalmannschaft werden live übertragen, was bei keiner anderen Frauensportart der Fall ist. Bei den Mädchen haben wir einen nachhaltigen Boom auch dank der Unterstützung durch DFB-Präsident Dr. Zwanziger. Darauf können wir in jedem Fall aufbauen.
fitness.com: Bemerkenswert ist, dass der DFB stärker als in anderen Verbänden üblich seine Frauenmannschaften in die Verantwortung von Frauen gelegt hat. In anderen Teamsportarten haben meist noch Männer das Sagen auf den Trainerbänken.
Neid: Der DFB wollte den Frauenfußball schon immer in Frauenhände legen und ist diesen Weg seit dem Amtsantritt von Tina Theune-Meyer konsequent gegangen. Auch wenn in der Bundesliga derzeit nur zwei Teams von Frauen betreut werden, halte ich diesen Weg für richtig. Bei uns machen viele Nationalspielerinnen schon während ihrer aktiven Karriere die Trainerscheine, was den Spielerinnen übrigens auch für ihr eigenes taktisches Verständnis noch Vorteile bringt. Im WM-Kader haben fünf Spielerinnen mindestens den A-Schein.
fitness.com: Das hört sich nach Kompetenzstreitigkeiten in Mannschaftssitzungen an ...
Neid: Keine Sorge. Da haben wir als Trainerteam noch das Sagen.
fitness.com: Halten Sie es denn für möglich, dass in absehbarer Zukunft mal eine Frau ein Männerteam in im Profibereich betreut?
Neid: Realistischerweise wird das noch sehr lange dauern. Es gibt derzeit erst 15 ausgebildete Fußball-Lehrerinnen, die einer ungleich größeren Menge an männlichen Kandidaten gegenüberstehen.
fitness.com: Hatten Sie denn schon mal eine Anfrage eines höherklassigen Männer-Clubs?
Neid: Nein, bislang noch nicht.
fitness.com:> Würde Sie der Wechsel denn reizen?
Neid: Ich bin absolut zufrieden mit meinem Job bei den Frauen. Ich habe schon während meiner ganzen Karriere für den Frauenfußball in Deutschland gekämpft und sehe noch genug Möglichkeiten weiter zu kämpfen.
fitness.com: Zum Schluss: Wer sind denn neben Ihrem Team die heißesten Anwärter auf den WM-Titel?
Neid: Ich bin überzeugt, dass es deutlich mehr Kandidaten gibt als jemals zuvor. Neben den klassischen Favoriten wie den USA, Norwegen oder Brasilien rechne ich China als Gastgeber unbedingt zum ganz engen Kreis. Die Schwedinnen wollen nach den vielen verlorenen Finals sicherlich auch gerne mal einen Titel gewinnen. Und als sehr aussichtsreichen Außenseiter sehe ich Nordkorea an.
Fitness.com Korrespondent Daniel Meuren wird über den gesamten Verlauf der Fußball-Weltmeisterschaft aus China berichten und die Deutsche National-Mannschaft auf ihrem Weg durch das Turnier und das Land begleiten.
Weitere Links zum Thema:
Auf den Spuren von Weltmeister Rahn
Tagebuch aus dem Trainingslager einer Bundesliga-Fußballerin
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