Seit Jahrzehnten tobt ein Kampf unter Ernährungsexperten über die „richtige“ Menge und Auswahl an Kohlenhydraten in der täglichen Ernährung. Diese Auseinandersetzung hat immer heftigere Auswirkungen im Beratungswesen, wie eine Episode meines letzten Supermarktbesuchs deutlich zeigte: Zwei Damen debattierten am Obstregal darüber, ob Äpfel zu viel Zucker enthalten, um gesund und figurfreundlich zu sein. Während die eine auf den Kauf verzichtete, gab die andere ihrem Appetit nach und nahm ein Kilogramm mit, um es durch mehr Sport auszugleichen. Die Frage, wie viel Obst man noch essen darf, ist kein Einzelfall und spiegelt die Verunsicherung wider, die durch widersprüchliche Ernährungsempfehlungen entsteht. Die Antwort auf die Frage, ob Kohlenhydrate Freunde oder Feinde sind, ist komplex und lässt sich nicht pauschal beantworten. Es ist ein Balanceakt, der individuelle Bedürfnisse und Lebensstile berücksichtigt.
Kohlenhydratreich oder kohlenhydratarm? Ein Perspektivwechsel
Die Antwort fehlt mir, wie auch vielen anderen Fachleuten, die sich nicht einer der beiden Seiten verschrieben haben. Im Grunde könnte genau dies die eigentliche Antwort sein. Während man den Studienverlauf zum Thema verfolgen kann, lohnt sich auch ein Perspektivwechsel. Welche Ernährungsweisen korrelieren mit einem langen und gesunden Leben? Die drei am häufigsten zitierten sind die traditionellen Ernährungsgewohnheiten der Inuit, die traditionelle Mittelmeerkost und die traditionelle japanische Ernährung. Jede dieser Ernährungsweisen hat ihre eigenen Vorzüge und Besonderheiten, und keine von ihnen lässt sich eindeutig als kohlenhydratarm oder -reich klassifizieren. Die Inuit-Ernährung ist sehr kohlenhydratarm, die japanische sehr kohlenhydratreich und die Mittelmeerkost moderat. Es zeigt sich, dass nicht die Menge allein entscheidend ist, sondern die Qualität und die Art der Kohlenhydrate.
Die „western diet“ als gegenteiliges Modell
Das Lebensmittelangebot in unserer Umgebung bietet zwar die Möglichkeiten für traditionelle Ernährungsweisen, aber auch für viele ungesunde Optionen. Die Präferenz für fett- und zuckerreiche Nahrung führt zu Stoffwechselerkrankungen und Fettleibigkeit. Unsere Wünsche und Präferenzen werden von der Lebensmittelindustrie interpretiert, was zu einem prallgefüllten Supermarkt führt, in dem unverarbeitete Lebensmittel nur einen kleinen Teil des Angebots ausmachen. Verarbeitete Lebensmittel dominieren das Angebot. Fastfood-Ketten sind ein Beispiel für den Erfolg der „western diet“ auf die Ernährungsentwicklung weltweit. Auch in Gebieten mit traditionell gesunder Ernährung sind Stoffwechselkrankheiten im Kommen, oft korreliert mit dem Konsum westlicher Nahrungsmittel. Dies verdeutlicht, dass nicht alle Kohlenhydrate gleich sind. Verarbeitete Kohlenhydrate und zugesetzter Zucker sind oft die Übeltäter, während natürliche Kohlenhydrate aus Vollkornprodukten, Obst und Gemüse wichtige Nährstoffe liefern.
Zucker – absolut im Wachstum
Zucker spielte in der menschlichen Ernährung lange Zeit kaum eine Rolle. Die Entwicklung von Methoden zur Zuckergewinnung war ein großer kultureller Schritt. Heute ist der Zuckerkonsum stark gestiegen, was zu gesundheitlichen Problemen führt. Zucker hat den Status als Hauptgegner der Gesundheit übernommen. Eine hohe Zuckeraufnahme, kombiniert mit einer einseitigen Ernährung und Bewegungsarmut, überlastet den Zuckerstoffwechsel und schadet dem Körper. Dies bedeutet jedoch nicht, dass alle Kohlenhydrate gemieden werden sollten. Glucose ist der Grundenergieversorger für alle Lebewesen. Der Mensch hat einen Mindestbedarf von ca. 180g/Tag. Kohlenhydrate sind sinnvoll, da sie den Energie- und Nährstoffbedarf decken. Eine kohlenhydratfreie Ernährung ist schwierig und oft nicht notwendig. Es kommt auf die Auswahl der Kohlenhydrate und die individuelle Anpassung an.
Wie viele Kohlenhydrate soll man essen?
Es herrscht keine Einigkeit über die optimale Kohlenhydratmenge. Der praktische Indikator ist die subjektive Leistungsfähigkeit, gepaart mit der gefühlten Lebensqualität und den Aussagen des Gesundheitschecks. Die Gesundheit kann nicht ausschließlich an einem Makronährstoff festgemacht werden. Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens. Die momentane Faustregel besagt, dass ca. 30% der Gesundheit in der Genetik und Epigenetik zu finden sind, die restlichen 70% in unserem Lebensstil, inklusive der Ernährung. Bewegung, Stressmanagement, Umgang mit Suchtmitteln, soziale Bindungen und Lebensqualität sind ebenfalls wichtige Faktoren. Die individuelle Anpassung der Kohlenhydratzufuhr, basierend auf persönlichen Bedürfnissen und Zielen, ist der Schlüssel zu einer ausgewogenen Ernährung.