Das Training mit der Kugelhantel verstehen
Wir befinden uns im Frühling des Jahres 2021 - seit einem Jahr sind die Fitnessstudios aufgrund einer Pandemie mehr oder weniger geschlossen und viele Sportler mussten sich neue Wege für ihr Training suchen. Bücher und Ratgeber über Homeworkouts schossen wie Pilze aus dem Boden, so dass Liegestütze, Klimmzüge und auch die Kettlebell eine wahre Renaissance erlebten. Dabei überboten sich die in bestem Licht fotografierten Influencer mit Versprechungen über extreme Erfolge bei Muskelaufbau und Fettschmelze durch viele dieser im Bodybuilding bisher belächelten Übungen.
Kann das Training mit der Kettlebell halten, was versprochen wird?
Schwierige Frage, die man nicht auf die Schnelle beantworten kann - denn es hängt maßgeblich von der Zielsetzung und dem bisherigen Leistungsstand des Anwenders ab, wieviele Fortschritte noch drin sind.
Rein von außen betrachtet sehen austrainierte (Natural-)Bodybuilder wesentlich muskulöser aus, wenn sie einen gewissen Leistungsstand in Langhantel-Übungen aufweisen. In mittlerweile über 100 Jahren Kraftsportgeschichte wurde alles genügend ausprobiert, so dass sich nicht umsonst schwere Kniebeuge, Kreuzheben, Bankdrücken, Dips mit Zusatzgewicht und schweres Rudern in einem bestimmten Wiederholungsbereich (zwischen 3 und 20, je nach Veranlagung) durchgesetzt haben.
Wäre die Kettlebell nur annähernd so effektiv beim Muskelaufbau, gäbe es bekannte Athleten, die ein Training mit ihr propagieren würden. Wirkliche mediale Aufmerksamkeit bekommt die Kettlebell aber nur von Typen, die zwar einen guten Körper haben, in puncto Masse einem vergleichbaren Langhantel-Sportler aber nicht das Wasser reichen können.
Die Spannungshöhe und - dauer reichen nicht aus
Worin liegt nun der Unterschied zwischen einem Kettlebell Swing (Kettlebell wird mit Schwung aus der Hüfte zwischen den Beinen vorkatapultiert) und einer von der beanspruchten Muskulatur her vergleichbaren Übung (Kreuzheben)?
Zunächst muss eine möglichst hohe Spannung der Muskulatur erreicht werden, damit möglichst viele Muskelfasern rekrutiert werden. Im Kreuzheben werden dafür möglichst viele Hantelscheiben aufgesteckt, den Rest erledigt die Schwerkraft. Die Kettlebell hingegen kann nicht maximal schwer beladen werden, da sie mindestens über Kopf gehoben werden und auch noch beschleunigt und gebremst werden muss, ohne dass man hinterherfliegt. Meist wird also eine Kettlebell mit 24 oder 32 kg benutzt, die gemäß der physikalischen Gesetzmäßigkeit "Kraft = Masse x Beschleunigung" maximal von unten heraus beschleunigt wird.
Nun liegt es in der Natur der Beschleunigung, dass nach hohen Anfangskräften eine "Schwebephase" eintritt, in der die Kettlebell ihren Weg nur aufgrund der Trägheit überwindet, irgendwann in der Luft stehenbleibt und danach durch die Schwerkraft bedingt von alleine wieder in ihre Ausgangsposition herunterfällt. Das bringt uns zum eigentlichen Problem:
Die Spannungsdauer ist wesentlich geringer
Im Kreuzheben baut man ab einem gewissen Hantelwiderstand so gut wie keine Geschwindigkeit mehr auf. Der Schwung wird unterbunden, statt wie bei der Kettlebell Voraussetzung zu sein. Daher ergibt sich eine Diskrepanz: Während beim Kreuzheben wenige Wiederholungen ausreichen, um die zum Muskelaufbau erforderliche Spannungsdauer zu erreichen, ergeben sich bei der Kettlebell automatisch recht lange Pausen zwischen den Belastungen. Unter 30 bis 50 Wiederholungen lohnt sich ein Satz einfach nicht, wenn Muskelaufbau das Primärziel ist.
Fazit: Rein auf den Muskelaufbau bezogen ist die Kettlebell der Langhantel unterlegen. Die Betrachtungen zum Swing und Kreuzheben können analog auf den Press, Snatch, Clean&Jerk und Rudern angewandt werden. Für die Brust existiert keine vergleichbare Kettlebell-Übung.
In welcher Fitness-Kategorie kann die Kettlebell trotzdem punkten?
Bei dem Versuch, mit der Kettlebell Fortschritte im Muskelaufbau zu erzielen, habe ich mich auf Trainingseinheiten bis zu 500 Kettlebell Swings (24 kg) in unter 25 Minuten hochgearbeitet. Und dabei wird jedem, der das nur annähernd nachzumachen versucht, sofort klar: Die Kettlebell kann aus einem Körper einen Fettverbrennungs-Hochofen machen!
Von 30 Minuten schnellem Laufen müsste ich mich deutlich länger erholen, von einer vergleichbaren Belastung mit Langhantel-Übungen bräuchte ich wahrscheinlich eine ganze Woche Ruhe. Aber die Höchstbelastung mit der Kettlebell konnte ich täglich wegstecken. Und das führte du einem viel höheren Energieumsatz.
Das Geheimnis der Sauerstoffschuld
Im Nachdenken darüber, weshalb ich mich so gut von den Kettlebell Swings erholen konnte, stieß ich auf den entscheidenden Unterschied zu den anderen Arten der Höchstbelastung: Die kleinen Zwischenphasen, in denen die Kettlebell "träge" ihren Weg fortsetzt, reichen einerseits aus, um mich muskulär zu erholen, andererseits aber nicht energetisch.
Auf diese Weise "geht immer noch eine Wiederholung", aber es baut sich eine immer größere Sauerstoffschuld auf. Das bedeutet, dass nach Beendigung der Belastung weiterer Sauerstoff aufgenommen werden muss, um das Defizit auszugleichen. Manchmal hört man dahingehend auch den Begriff "Nachbrenneffekt" - und der erwies sich bei Kettlebell Swings im hohen Wiederholungsbereich als exorbitant.
Meine Erfahrung: der Energieverbrauch verdoppelt sich!
Anhand meiner eigenen Kalorienzählung (in der ich langjährige Erfahrung habe) ergab sich für mich ein Verbrauch von etwa 500 kcal pro Trainingseinheit mit 500 Kettlebell Swings. Bei gleichbleibendem Körpergewicht nahm ich täglich aber 1000 kcal mehr auf, als normal - und zwar dauerhaft.
Das lässt für mich die Schlussfolgerung zu, dass diese zusätzlichen 500 kcal aus dem Nachbrenneffekt stammen.
Zusammenfassung
In der Vergangenheit hat sich das Training mit der Kettlebell gegenüber den schweren Langhantel-Übungen in puncto Muskelaufbau als unterlegen erwiesen. Die derzeitige mediale Aufmerksamkeit entspringt allein der Not, bei geschlossenen Fitnessstudios Alternativen finden zu müssen.
Beim Thema Energieverbrauch kann die Kettlebell punkten, wenn man auf hochintensive Belastungen blickt.