Das Minnesota-Experiment (Teil 5) „Die Männer, die für die Wissenschaft hungerten“ – Resumée

Das Minnesota-Experiment (Teil 5) „Die Männer, die für die Wissenschaft hungerten“ – Resumée

Foto: © Fototechnik-Warda

Die meisten Männer konnten es gar nicht erwarten, sich nach der offiziellen Beendigung des Experiments in die Masse an Essensangeboten zu stürzen, welche die Welt ihnen bot. Die einzige Empfehlung für sie lautete, ihre Mägen in den ersten Tagen nicht durch zu große Mengen zu überlasten. Ein Punkt, der natürlich nicht beachtet wurde. Fast alle Probanden berichteten später, dass sie tatsächlich sehr über die Stränge schlugen, mit den entsprechenden körperlichen Folgen. Einer davon sogar so heftig, dass ihm der Magen ausgepumpt werden musste.



Uneingeschränkte Rehabilitation


12 Männer erklärten sich bereit, noch 8 Wochen für weitere Beobachtungen in der Einrichtung zu verbleiben. Ihre Mahlzeiten wurden nun nicht mehr eingeschränkt, aber trotzdem noch möglichst genau observiert, um das Verhalten bei freiem Zugang zu Essbarem zu erfassen. Errechnet wurde in dieser Zeit eine durchschnittliche Aufnahme von 5129 kcal/Tag. Fressattacken häuften sich bei Energiemengen bis zu 11500kcal/Tag. Alle Teilnehmer berichteten einheitlich, dass sie zwar aßen bis sie „bald platzten“, aber der eigentliche Satt-Effekt dennoch ausblieb. Gemeinsam war ihnen auch eine irrationale Angst, dass ihnen ihr Essen wieder weggenommen werden könnte. Verhaltensweisen, die in den folgenden Treffen auch von den restlichen Teilnehmern geschildert wurden.



Langzeitfolgen


Die gesamte Zeit der körperlichen Regeneration belief sich laut Aussage der Probanden, die Jahre später interviewt wurden, auf 2 Monate bis 2 Jahre. Durch die überhöhte Energiezufuhr war die auf das Experiment folgende Gewichtszunahme sehr deutlich. Im Durchschnitt belief sie sich auf 27 Pfund über dem Ausgangsgewicht in den darauffolgenden Jahren. Der Aufbau der verlorenen Muskeln wurde als besonders ärgerlich angesehen, und auch als wesentlich härter. Bei den meisten Teilnehmern pendelte sich die Körperform zwar nach und nach wieder auf Normalniveau ein, drei der in späteren Jahren befragten Männer gaben aber an, dies nie wieder geschafft zu haben. Abgesehen davon ließen sich keine weiteren negativen Langzeiteffekte finden.

In einem waren sich aber alle einig: sie würden es wieder tun. Die Tatsache, dass sie an einem solchen Projekt im Dienste der Menschheit mitgewirkt hatten trug dazu genauso bei, wie ihre Erfahrungen, die sie für sich selbst aus dieser Zeit zogen. Die persönlichen Veränderungen beinhalteten auch einen besseren Umgang mit Unglücksfällen jedweder Art, frei nach dem Motto „was mich nicht umbringt, macht mich stärker“.



Die Veröffentlichung


Da ein Experiment dieses Zeitrahmens natürlich eine enorme Menge Daten erbringt, war es nicht verwunderlich, dass noch einmal eine lange Zeitspanne verging, bis sie ausgewertet und in akademische Reinform gebracht wurden. Zu lang, wie sich später herausstellen sollte. 1950 veröffentlichte er das Endergebnis in dem zweibändigen Werk The Biology of Human Starvation mit knapp 1350 Seiten. 5 Jahre nach Kriegsende und kurz vor Beginn des Wirtschaftsaufschwungs.

Der eigentliche Zweck, eine Hilfe für das kriegsgebeutelte Europa, konnte also nicht mehr erfüllt werden. Wie zu erwarten war der Erfolg auf der praktischen Ebene also nicht so groß wie erhofft, auch wenn die akademische Welt ihm und den Teilnehmern Respekt zollte. Für Wissenschaftler, die sich mit dem Phänomen der Anorexia nervosa auseinandersetzen, ist es ein Standardwerk.



Der Bezug zum Heute


Auch wenn das Werk mit seinen nunmehr fast 70 Jahren zu einem der älteren in der Medizingeschichte zählt, sollte man eines wissen: es ist einzigartig. Kein Wissenschaftler hat sich dem Thema Hunger so ausgeprägt gewidmet wie Keys und seine Kollegen, und es wird auch kaum noch einer tun. Zum einen steht die Frage nach der ethischen Korrektheit auf wesentlich wackligeren Füßen als zur damaligen Zeit, zum anderen ist es wohl heute kaum noch möglich eine gewisse Anzahl von Menschen einer solch langanhaltenden Rundum-Überwachung zu unterziehen. Vom finanziellen Aspekt ganz zu schweigen - die Aufwandsentschädigungen müssten horrend sein.



Beide Aspekte – Hunger und Überfluss – sind zwei Seiten einer Medaille


Des Weiteren hat sich auch das öffentliche und akademische Interesse am Thema verändert. In den Industrienationen und auch mittlerweile in vielen Schwellenländern greift mit steigender Tendenz das Phänomen der Überernährung um sich. Dennoch sind beide Aspekte – Hunger und Überfluss – zwei Seiten einer Medaille. Zum einen weil beides in erschreckend hohen Zahlen auf dieser Erde vorhanden ist. Zum anderen, weil auch in den Industrieländern das Thema Hunger unterschwellig in verschiedenster Form vorhanden ist.

Der Großteil von uns kennt keinen Mangel. Wir wissen nicht wie es sich anfühlt, wenn man nicht weiß, wie man den nächsten Tag bestreiten, oder wie man seine Angehörigen versorgen soll. Und wir sind ganz weit davon entfernt praktisch alles zu essen, um überhaupt etwas im Magen zu haben. Das genaue Gegenteil ist der Fall. Und die Veränderungen unseres Umgangs mit dem Essen sind ebenso gravierend. Wir alle wissen, dass Essen lebensnotwendig ist, genauso wie Atmen und Trinken. Wir wissen es theoretisch, aber es ist uns nicht eindeutig bewusst. Uns sind ja nur der Überfluss und seine Folgen gewahr.

Eine Figur außerhalb des Ideals, Risikobewertungen von medizinischer Seite, die weit entfernte Wunschkleidergröße und alles, was wir auf uns nehmen, um dies zu ändern. Eine Entwicklung, die seit Jahrzehnten voranschreitet, und eben auch in negativen Folgen für den Menschen selbst gipfelt. Wenn bestimmte Lebensmittel auf dem Index stehen. Wenn eine Überschreitung der selbst auferlegten Nahrungshöchstmenge Scham, Ekel und Selbstzweifel hervorrufen. Wenn das Essen zu einer Massendisziplinierung degradiert oder gar zum Feindbild erkoren wird. Dann entsteht Hunger im Selbstbauprinzip



Was ist verrückt? Das Minnesota-Experiment oder doch diverse Diätkonzepte?


Wenn man einige Zeit im Netz über das Minnesota-Experiment recherchiert, bekommt man in vielen Fällen die Adjektive gruselig, erschreckend und auch verrückt zu lesen. Verrückt wird es aber erst richtig, wenn man sich aber dazu unsere Diätlandschaft genauer anschaut. Die Vorgaben des Experiments scheinen auf den ersten Blick radikal gewählt zu sein, sind aber gar nicht so weit weg von den meisten Diäten unserer Zeit. Sowohl die straffe Kalorienrestriktion als auch der geschrumpfte Speiseplan auf einige wenige Lebensmittel sind in vielen Fällen Standard. Ebenso entspricht die körperliche Aktivität den Richtlinien vieler Programme. Nimmt man also die experimentell erhobenen Daten, insbesondere den psychologischen Anteil, und überträgt sie auf die Otto-Normal--Diäthaltenden – bleibt es wirklich so verwunderlich, dass so viele scheitern? Diese Frage wurde schon vor langer Zeit beantwortet.



Minnesota-Experiment: Ein Jahr für die Wissenschaft


Lange vor Wirtschaftsaufschwung, Überfluss und Diätgesellschaft haben sich 36 Männer freiwillig gemeldet, ein Jahr ihres Lebens für die Wissenschaft zu geben. Sie hungerten, um den wirklich Hungerleidenden eine Chance auf bessere Hilfe geben zu können. Und ohne es zu wollen, gaben sie auch den nachfolgenden, im Überfluss lebenden Generationen nutzbare Informationen. Ein Wissen, welches gewürdigt werden sollte.

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